Analysis und Zahlentheorie
Prof. Dr. A. Krieg
von Bernd Gotzen
Auf den hier folgenden Seiten wird dargestellt, wird ein mathematisches Modell zur Beschreibung einfacher chemischer Reaktionen entworfen werden kann. Dabei wird der Reaktionsprozess eines einfachen Simulationstools beobachtet.
Die Analyse der Simulationsergebnisse kann - ähnlich wie bei den Modellen zur Konkurrenz - ausschließlich mit Mitteln der Schulmathematik erfolgen. Daher bietet der hier dargestellte Modellierungsprozess eine weitere Möglichkeit, mathematische Modellierung im schulischen Unterricht und auch in der universitären Mathematikausbildung zu behandeln.
Die hier vorgestellten Inhalte sind Ergebnisse der Dissertation Elementare Wege zur mathematischen Modellbildung : Fallbeispiele aus Biowissenschaften und Chemie von B. Gotzen [1], die auch in dem Artikel Mathematische Modellierung chemischer Reaktionen - Ein Fallbeispiel von B. Gotzen, L. Nöthen und C. Roeckerath [2] veröffentlicht wurden.
Bei chemischen Reaktionen verbinden sich Stoffe zu neuen Stoffen oder zerfallen in ihre Ausgangsstoffe. Es wird eine Reaktion zweier Edukte (A und B) zu einem Produkt (C) betrachtet:
Ist diese Reaktion reversibel, so zerfällt das Produkt wieder in die Edukte:
Die Erfahrung zeigt, dass sich bei chemischen Reaktionen im abgeschlossenen Reaktionsgefäß nach einiger Zeit ein Gleichgewicht einstellt, so dass sich die Konzentrationen der beteiligten Stoffe nicht mehr ändern. Obwohl ein scheinbar statischer Zustand erreicht ist, findet die Reaktion weiter (in beiderlei Richtung) statt; es wird von einem dynamischen Gleichgewicht gesprochen.
Ein Beispiel für eine solche reversible Reaktion ist die Bindung von Sauerstoff (O2) an das Protein Myoglobin (Mb):
Die norwegischen Chemiker C. M. Guldberg und P. Waage (vgl. [3]) führten etliche Untersuchungen unterschiedlicher Gleichgewichtsreaktionen durch und leiteten aus den gewonnen Daten 1864 das sogenannte Massenwirkungsgesetz her:
Der Quotient aus dem Produkt der Konzentrationen der Produkte und dem Produkt der Konzentrationen der Edukte hat im Gleichgewicht für jede Temperatur einen konstanten Wert.
Übertragen auf die Reaktion A + B ↔ C bedeutet das für den Gleichgewichtszustand:
Im Schulunterricht und in Anfängerveranstaltungen werden unterschiedliche Veranschaulichungen, Experimente und Modelle benutzt, um dieses Phänomen zu verdeutlichen.
Im Schulunterricht werden gerne der sogenannte Stechhebeversuch (vgl. Eisner et al. [4] oder Tausch [5]) oder der Holzapfelkrieg (vgl. Dickerson et al. [6]) herangezogen. In beiden Fällen handelt es sich allerdings um Modelle bzw. Veranschaulichungen, in denen ein entgegengesetzter Transport - von Flüssigkeiten bzw. Äpfeln - in einen Gleichgewichtszustand übergeht. Wir dieser Transport als Übergang von Produkten zu Edukten und vice versa gesehen, ist das Bild nachvollziehbar, aufgrund der zusätzlichen Abstraktion jedoch zumindest bedenkenswert.
Im akademischen Bereich bedient man sich der allgemeinen Stoßtheorie (vgl. Wedler [7]), in der die Edukte als Kugeln innerhalb eines Reaktionsraumes angesehen werden. Diese Kugeln befinden sich in Bewegung und es kommt zu einer Reaktion, wenn eine Kugel des Eduktes A und eine des Eduktes B aneinanderstoßen. Diese Vereinfachung der Realität beinhaltet auch die Möglichkeit, dass das Teilchen A nach der Reaktion mit dem B-Teilchen auch weitere Reaktionen mit anderen B-Teilchen eingehen kann. Dabei wird dem Verbrauch und dem Freiwerden von Energie keine Beachtung geschenkt.
Allgemein ist festzustellen, dass die Herleitung des Reaktionsmechanismus über die allgemeine Stoßtheorie, aber auch die Modelldarstellungen zum dynamischen Gleichgewicht, die beide in der schulischen und akademischen Ausbildung genutzt werden, Fragen offen lassen oder auf einschränkenden Voraussetzungen basieren.
Ausgangspunkt dieses Modells ist die allgemeine Stoßtheorie, bei der die Reaktion zweier Stoffe durch ein Zusammenstoßen entsprechender Teilchen modelliert wird. Es soll wiederum eine einfache Reaktion der Form
genauer betrachtet werden, bei der zwei Ausgangsstoffe in einem geschlossenen Reaktionsgefäß reversibel zu einem Produkt reagieren.
Ziel ist es nun, ein einfaches Konzeptmodell zu entwerfen, das die Verbindungs- und Zerfallsprozesse der Reaktion beschreibt. Dabei muss darauf geachtet werden, dass die notwendigen Vereinfachungen das Gesamtsystem nicht zu stark verfälschen und nach Möglichkeit auch aus der Realität heraus begründet werden können. Das hierbei entstehende Konzeptmodell beinhaltet noch keine Mathematisierung, es soll lediglich der komplexe Ablauf auf einer abstrahierten, aber vereinfachten Ebene, dargestellt werden.
Eine Betrachtung der Reaktion auf der Teilchenebene zeigt, dass sich die jeweiligen Teilchen im Reagenzgefäß verteilen.
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Abbildung 1: Momentaufnahme der Reaktion A + B ↔ C (Stoff A: Kreis, Stoff B: Quadrat, Stoff C: Dreiecke) |
Ein erster Vereinfachungsschritt ist die zeitliche Diskretisierung des Vorgangs. Die Reaktion wird in diskreten Zeitschritten beobachtet, was mit der Betrachtung mit einem Stroboskop vergleichbar ist. Die Positionen der einzelnen Teilchen, aber auch die Anzahl oder Konzentration der Teilchen der beteiligten Stoffe, ist daher zu bestimmten Zeitpunkten fest bestimmbar.
Ähnlich wie in der allgemeinen Stoßtheorie wird hier auch davon ausgegangen, dass eine Reaktion zwischen zwei Eduktteilchen mit einem Zusammenstoß vergleichbar ist. Zur Vereinfachung der Beschreibung wird der Reaktionsraum in kleine Bereiche ("Kästchen") aufgeteilt. Ein Zusammenstoß verschiedener Teilchen (und damit ggf. eine Reaktion) erfolgt genau dann, wenn sich diese im selben Kästchen befinden. Zur Veranschaulichung werden die Kästchen in einem rechteckigen Verbund angeordnet. (Nachbarschaft verschiedener Kästchen hat dabei keine Bedeutung.)
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Abbildung 2: Darstellung der Lage der Teilchen mit Hilfe des Kästchenmodells (Stoff A: Kreis, Stoff B: Quadrat, Stoff C: Dreiecke) |
Die Verteilung der an der Reaktion beteiligten Teilchen kann somit als Verteilung der Teilchen auf die dargestellten Kästchen modelliert werden. Bei einer Betrachtung in diskreten Zeitschritten muss festgelegt werden, wie sich die Verteilung der Teilchen aus der vorherigen Verteilung ergibt und wie dieser Zusammenhang umgesetzt werden kann.
Für das zeitlich diskretisierte Konzeptmodell werden folgende Annahmen gemacht:
Auf der Basis dieses Konzeptmodells ist es möglich, ein stochastisches Simulationsmodell zu erstellen, das die Reaktion in folgender Form simuliert:
Zum Zeitpunkt t befinden sich in den Kästchen At Teilchen von Stoff A, Bt Teilchen von Stoff B und Ct Teilchen von Stoff C. Im nächsten Zeitschritt werden alle Teilchen neu auf das Kästchensystem gleich verteilt, wobei in manchen Kästchen Teilchen von Stoff A und Stoff B landen. Die Anzahl dieser Kästchen wird mit kt bezeichnet; diese Zahl gibt die Anzahl der neu gebildeten C-Teilchen an.
Gleichzeitig zerfällt in jedem Zeitschritt jedes C-Teilchen mit der Wahrscheinlichkeit z, so dass im Mittel z⋅Ct Teilchen zerfallen. Die mittlere Anzahl der jeweiligen Teilchen zum Zeitpunkt t + 1 ergibt sich dann durch folgende Gleichungen:
Diese Bilanzgleichungen korrespondieren mit einem computergestützten stochastischen Modell zur Simulation einer chemischen Reaktion der dargestellten Form. Im nächsten Abschnitt werden das Basistool sowie ein darauf aufbauendes Tool beschrieben.
Im Basistool wird die Reaktion wie im Kästchenmodell beschrieben stochastisch simuliert. Dabei werden die Zellen, in denen eine Reaktion stattfindet mit einem R und die Kästchen, in denen ein Produkt zerfällt, mit einem Z gekennzeichnet. Im oberen Bereich können die Startwerte als Teilchenanzahlen sowie der Zerfallskoeffizient (zwischen 0 und 1) angegeben werden. Daneben erhält man die Darstellung der aktuellen Änderung (vorher → nachher) und im unteren Bereich eine numerische Auswertung.
Hier kann die Reaktion auf Teilchenebene in diskreten Zeitschritten nachempfunden werden.
Während im Basistool eine Reaktion in diskreten Zeitschritten beobachtet werden kann, bietet das Gleichgewichtstool die Möglichkeit, stochastisch zu arbeiten. Es werden parallel mehrere Experimente über einen längeren Zeitraum durchgeführt und die durchschnittlichen Konzentrationen angegeben. Im oberen Bereich werden - wie im Basistool - die Startwerte und der Zerfallskoeffizient angegeben. Zusätzlich werden die Anzahl der parallelen Experimente und die Anzahl der durchgeführten Schritte vom Benutzer vorgegeben. In diesem Tool kann die Entwicklung zu einem Gleichgewichtszustand festgestellt werden.
Ein erster Schritt in Richtung einer anschaulichen Modellierung auf Teilchenebene ist getan.
Wie das Gleichgewichtstool zeigt, stellt sich bei den Reaktionen in der Regel ein Gleichgewicht ein. Dieses Gleichgewicht variiert allerdings bei unterschiedlichen Startkonzentrationen und unterschiedlichen Zerfallskoeffizienten. Zufällige Startkonstellationen bei einem vorgegebenen Zerfallskoeffizient werden in einem weiteren Tool mehrfach simuliert und gemittelt. Die Ergebnisse werden dann in einem Diagramm dargestellt, wobei die Konzentration des Produktes in Abhängigkeit vom Produkt der Eduktkonzentrationen abgetragen wird. Es zeigt sich, dass ein linearer Zusammenhang bestehen muss, der bereits im Gleichgewichtstool zu erahnen war.
Ausgehend von diesem linearen Zusammenhang lässt sich folgende Gleichung bzgl. der Konzentrationen im Gleichgewichtszustand aufstellen:
Somit ist das Massenwirkungsgesetz für chemische Reaktionen der vorgenannten Form im Gleichgewicht aus den Simulationen ableitbar.
Mit Hilfe des Verbindungstools und einem geeigneten Tabellenkalkulationsprogramm kann das Massenwirkungsgesetz auch mathematisch formaler hergeleitet werden. Eine detaillierte Beschreibung des Verfahrens kann [2] entnommen werden.